Nachts wandelt es sich am besten
Sie schärft die Sinne, erleichtert die Konzentration aufs Wesentliche und weckt selbst in Hartgesottenen mitunter romantische oder gar spirituelle Gefühle: die Nacht. Tim Krohn macht sie zum Nährboden seines neuen Buchs Nachts in Vals. In neun emotionalen Episoden, die Krohn alle in und um das berühmte Schweizer Hotel am Fuße der Valser Berge arrangiert (dorthin, wo die Nächte tatsächlich noch dunkel sind), scheint alles möglich – alles außer Schlafen.
Eine schwangere Jungschauspielerin entscheidet unterm Sternenhimmel über Sein oder Nichtsein ihres ungeborenen Kindes. Der inzwischen in Australien lebende Bestsellerautor Seligmann, der einst nach der Reichskristallnacht aus Berlin floh, blickt widerwillig der Familienfeier anlässlich seines 80. Geburts-tags entgegen. Und ein Jurist beschließt indessen, ab sofort gar nichts mehr gegen seinen eigenen Willen zu tun. Erste Konsequenz daraus: Er trennt sich via pointiertem Hotelzimmerverweis („Geh“) augenblicklich von seiner langjährigen Freundin.
Für einen anderen jungen Mann – weniger betucht, dafür bis über beide Ohren verliebt – liegt ein offizieller Aufenthalt im schicken Thermenhotel, mit Zimmerservice und duftenden Badezimmerpräsenten, finanziell außer Reichweite. Doch davon lässt er sich die Laune nicht verderben, dann wird das „Bonzenhotel“ eben inkognito aufgesucht: flott für sich und seine Freundin auf nicht ganz legalem Wege Hotelschlappen und Bademäntel organisiert und zack!: – rein ins Luxusbad! Bei Einbruch der Dunkelheit, ganz im Stil von Bonnie und Clyde.
Und dann wäre da noch die Geschichte des hochtalentierten Jazztrompeters Casutt, den die Zwänge des (Familien-)Alltags zum Gebrauchsmusiker haben werden lassen. Unter den tropischen Klimabedingungen des schalldichten Maschinenraums der Therme findet er zurück zu musikalischer Höchstform. Stück für Stück lernt er im Schutz des Kellers wieder ohne Dämpfer zu spielen wie zu fühlen.
So weit nur fünf von neun Leben, denen Tim Krohn in Nachts in Vals nachspürt. Seine Figuren können allesamt nicht schlafen. Nachdenklich liegen sie wach und sind, jeder für sich, auf der Suche – nach einer Entscheidungshilfe, Ruhe, bestimmten Tönen, Veränderung, neuem Lebensmut, sich selbst oder dem Klo. Die meisten von ihnen treibt es letztlich hinaus in die Nacht. Sie tauschen Bett- gegen Himmelsdecke, wandeln durchs Halbdunkel und gewinnen dabei nicht nur zunehmend an Orientierung, sondern oft auch eine entscheidende und in der Folge ihr Leben verändernde Erkenntnis. Was bei Tageslicht unmöglich erschien, wird in nächtlicher Dunkelheit plötzlich vorstellbar. Die Gedanken gewinnen an Klarheit. Es lässt sich mutiger, radikaler und freier denken.
Konsequent macht Krohn den Berg zum Protagonisten und zugleich Zeugen seiner Mensch-Moment-Aufnahmen. Der Anblick des Naturkolosses erinnert die meisten Hotelgäste zumindest vorübergehend an ihre eigene Ohnmacht und so entsteht an seinem Fuße ein kleines Panoptikum des Menschlich-Unperfekten.
Die komplette Medienmitteilung ist hier abrufbar.
Copyright der Fotigrafien vom Author: Rolf Canal
Titelbild des Buches: Adrian Vieli